Schnabulieren

Die Knackersemmel

HOFFNUNG UND WURST!

Ein Gastartikel von Martin Stein.

Jede Stadt braucht Leuchttürme, ob sie nun am Meer liegt oder nicht. Als Wahrzeichen, aber auch als Symbole der Hoffnung: für die Touristen wie auch für die Einheimischen, um in stürmischen, dunklen Zeiten ein Licht in der Finsternis zu sein. Traditionell sind das natürlich oft die Kirchen oder irgendwelche Konkurrenztürme, Prachtbauten jeglicher Provenienz, Hauptsache hochaufragend. Nun ist ja gerade Regensburg nicht arm an Türmen, aber manchmal leuchtet so ein Lichtlein auch aus einer ganz unscheinbaren Hütte.

Gerade in diesem Winter, der ja aus bekannten Gründen ein bisschen dunkler ist als üblich, strahlt eine bestimmte Hütte noch ein bisschen heller als sowieso schon, und das Licht spricht: Komm zu mir, der du ziellos durch diese Zeit und deren Gassen irrst, und ich werde dich laben, auf dass es dir wohl ergehe.

In der zeitgenössischen standardsprachlichen Übersetzung lautet diese Aufforderung folgendermaßen: Schau vorbei und kauf dir eine Knackersemmel.

Bei besagter Hütte handelt es sich nämlich um den Verkaufsstand der Wurstbraterei Reisinger am Neupfarrplatz, und da gibt’s die legendäre Regensburger Knackersemmel. Die Knacker- oder auch Regensburgersemmel ist ein auf den ersten Blick unscheinbares Verzehrgut, das jedoch in seiner Bedeutung keineswegs hinter den weitaus bekannteren Nürnberger Würstchen, dem Wiener Schnitzel oder dem New Yorker Hot Dog zurücksteht. Das weiß nur keiner. Vermutlich, weil der Oberpfälzer vom Naturell aus sehr bescheiden ist und wir in Regensburg eh schon viel zu berühmt geworden sind. Alles so schön bunt hier. Man kann ja kaum mehr in der Jogginghose einkaufen gehen, ohne Angst haben zu müssen, irgendjemandem das Urlaubsfoto zu versauen. Und bei allem Stolz über international renommierte Sternenköche freut man sich hier eben gerade auch über ein so zurückhaltendes, unaufdringliches Verzehrgut wie diese kulinarische Mitnahmepretiose.

Der Grundstein der Knackersemmel jedenfalls wurde 1946 gelegt, als die Urgroßeltern der jetzigen Betreiber eine Wurstbraterei gründeten. Das Jahr ist bedeutsam: nach dem Krieg brauchten die Menschen Hoffnung. Und Wurst. Was damals manchmal gleichbedeutend war. Und es schadet auch jetzt nicht, an diese Zeit zu erinnern, gerade weil es jetzt viel zu viele Menschen gibt, die das, was sie jetzt durchmachen müssen, als Not fehlinterpretieren.

Die eigentliche Knackersemmel entstand dann etwa zehn Jahre später, und diese zehn Jahre haben für eine Entwicklungsstufe gereicht, die in ihrer Perfektion das Ende aller Verbesserungsmöglichkeiten darstellt. Wie die Erfindung des Rades, quasi. Runder wird’s nimmer.

Es gibt verschiedene Möglichkeiten, eine Knackersemmel zu verzehren, richtig aber ist nur eine, da darf man sich nichts einreden lassen: „mit allem.“ „Alles“ heißt hier, mit Gurke, süßem Senf und Meerrettich. Das ist alles, und alles bedeutet auch, dass was fehlt, wenn man zum Beispiel den Meerrettich wegläßt. Die kulinarische Komposition gerät aus dem Gleichgewicht, und obwohl die Reisingers natürlich auch derart abwegige Kundenwünsche erfüllen, kann kein Zweifel daran bestehen, dass da ein kulinarisches Sakrileg begangen wird, ähnlich wie eine Weißwurst mit Ketchup zu essen oder ein Steak durchzubraten.

Semmel, Wurst, Meerrettich, Gurke, süßer Senf.

Wenn Ihnen das nicht schmeckt – suchen Sie die Schuld bei sich selbst und nirgendwo anders.

Regensburg im Winter ist ja gerne mal ein trübdüsteres Nebelloch; gehen Sie zu den Reisingers und lassen Sie sich ein bisschen Wärme und Sonnenschein in Alufolie einwickeln. Ein paar Meter weiter finden die Katholiken Trost im Regensburger Dom; die Wurstbraterei Reisinger stinkt da natürlich architektonisch wie bedeutungstechnisch etwas ab. Allerdings sollte man ihre Bedeutung für die Menschen auch nicht unterschätzen: man reicht dort viel mehr als nur eine Brotzeit durchs Fenster, sondern viel eher eine konfessionsübergreifende warme Hostie. Vielleicht nicht ganz mit dem Potential (und dem Anspruch) einer Weltreligion, dafür aber mit einem deutlich höheren Nährwert.

Gastautor Martin Stein
Lieber Martin, vielen Dank für den wunderbaren Artikel!
Allen Lesern sei Martins Podcast „Herr Stein rät“ ans Herz gelegt.
Und natürlich eine Knackersemmel am Neupfarrplatz.

 

Regensburg
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